Central Sensitization in Muscoloskeletal Pain: Lost in Translation?
Spätestens seit den Untersuchungen und Abhandlungen von Clifford Woolf in den 80er und frühen 90er Jahren ist das Konzept der zentralen Sensibilisierung (ZS) von Schmerz nicht mehr aus dem wissenschaftlichen und klinischen Alltag zu dieser Thematik wegzudenken. Patient*innen mit (chronischen) muskuloskelettalen Beschwerden werden auf Basis dieser Erkenntnisse und durch die Erfassung psychosozialer Aspekte wesentlich holistischer betrachtet, der Paradigmenshift vom rein biomedizinschen hin zu einem bio-psycho-sozialen Verständnis wird durch Grundlagenforschung unterstützt.
Van Griensven et al (2020) befassen sich in ihrem Kommentar mit drei wesentlichen Fragen, die man sich als Forscher*in und Kliniker*in zu zentraler Sensibilisierung stellen sollte:
- Was ist die ursprüngliche Beschreibung zentraler Sensibilisierung?
- Welche naheliegenden Befunde bestehen diesbezüglich im klinischen Alltag?
- Was sind die Herausforderung bezogen auf die klinischen Anwendungen dieses Konzepts?
Zentrale Sensibilisierung wird letztendlich als adaptives, aktivitätsabhängiges und dynamisches neurophysiologisches Phänomen beschrieben, welches bekannte neurobiologische Prozesse spinal und supraspinal inkludiert. Auch wenn es keine spezifische klinische Testung für ZS gibt erwecken Phänomene wie anhaltende, spontane und weit verbreitete Schmerzen, welche oft auf scheinbar harmlose Stimuli auftreten, den klinischen Verdacht auf Bestehen einer solchen. Daraus resultiert letztendlich die Quantitativ Sensorischen Testung.
Was sind nun tatsächlich mögliche Herausforderungen, v.a. im klinische Alltag?
- Fehlen klarer Biomarker zur Bestätigung der „Diagnose“ einer ZS: Auch wenn die zeitlich aufwendige und kostenintensive QST eine gute Unterstützung – primär im wissenschaftlichen Kontext – bietet, so ist sie doch primär eine Untersuchung, welche eher evozierte Reiz-Reaktions-Antworten auswertet, als den klinisch charakteristischen spontanen, oft auch als tief im Gewebe bestehenden, Schmerz untersucht. Zukünftig könnten objektive Marker aus dem Bereich der funktionellen Bildgebung eine Rolle spielen.
- Fragebögen: Auch Fragebögen, wie unter anderem das Central Sensitization Inventory (CSI) scheinen trotz zufrieden stellender Validität ihre Limitationen aufzuweisen.
- Psychologische Zusammenhänge: Zentrale Sensibilisierung sollte nicht synonym mit psychologischen Problemen assoziiert werden. Auch wenn psychologischer Disstress Einfluss auf das Nervensystem inklusive dessen Modulation hat, besteht scheinbar keine Kausalität in die eine oder andere Richtung. Das soll natürlich nicht bedeuten, dass jeweils beide Aspekte nicht klinisch zu bedenken und zu untersuchen sind.
- Periphere Treiber: Sowohl die Initiierung, Aufrechterhaltung als auch die Modulation von ZS kann durch peripher nozizeptive Aspekte geschehen. Klinisch sind solche Phänomene aus dem Bereich der Lokalanästhesie oder aus operativen Verfahren ja bekannt.
- Erkenntnistheoretische „Demut“: Vertiefende Forschung trägt dazu bei, dass andere Pathomechanismen hinter Phänomenen stehen, welche vor zehn Jahren noch mit dem Hintergrund einer ZS auch als solche behandelt wurden. Dies betrifft vor allem wieder die Rolle peripherer Treiber.
- Klinische Terminologie: Man darf die Diskussion beginnen den Begriff der „Zentralen Sensibilisierung“ den neurobiologischen Prozessen vorzubehalten und im klinischen Alltag darauf zu verzichten. Central sensitivity syndrome oder noziplastischer Schmerz sind wohl als Beginn einer Überlegung zur klinischen Umschreibung zu werten.
Zusammenfassend darf man zentrale Sensibilisierung zunehmend primär als neurophysiologisches Phänomen betrachten, welches auf Grund fehlender Biomarker klinisch zurückhaltend interpretiert werden sollte. Psychologische Aspekte sind beeinflussend, sollten aber nicht für eine ZS als Erklärung herhalten müssen. Klinische und Grundlagenforschung werden höchstwahrscheinlich auch für dieses Konzept einen neuen Paradigmenwechsel herbei führen. Als Kliniker*in und Forscher*in sollte man sich daher stets die Offenheit für einen solchen erhalten.
Quelle: van Griensven, H., Schmid, A., Trendafilova, T., & Low, M. (2020). Central Sensitization in Musculoskeletal Pain: Lost in Translation? Journal of Orthopaedic & Sports Physical Therapy, 50(11), 592–596. https://doi.org/10.2519/jospt.2020.0610